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Wenn ein Gericht ohne Beachtung von Kollateralproblemen entscheidet
Vorsicht, Meinung!
In dem verlinkten Text über Oliver Biermann (siehe dort) ist es ja schon so nebenher „nicht verheimlicht” worden: Auch Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung haben sexuelle Bedürfnisse. Vor einem Monat nun gab es ein vorläufiges (noch nicht rechtskräftiges) Urteil des Sozialgerichts Hannover, das meines Erachtens diskussionswürdig ist:
Ein vor 19 Jahren auf dem Heimweg von seiner Berufsausbildungsstätte schwer verunglückter Mann, der durch das dabei erlittene schwere Schädel-Hirntrauma seitdem umfangreich und dauerhaft pflege- und alltagshilfebedürftig ist, kann sich die Kosten einer regelmäßigen „Sexualbegleitung durch zertifizierte Dienstleisterinnen“ von seiner Berufsgenossenschaft (BG) erstatten lassen.
In dem Urteil wurde der Standpunkt der BG, die Befriedigung des Sexualtriebs falle nicht in den Aufgabenbereich der seit dem Unfall zu finanzierenden medizinischen und sozialen Behandlungen, weniger hoch veranschlagt als jener des Klägers, dass sie, die „selbstbestimmte Sexualität”, das „gestörte seelische Befinden des Behinderten verbessere und sein Selbstbewusstsein stärke”.
Euer Ehren, wie bitte?!
Das Problem, um das jetzt wahrscheinlich zwischen den beiden Prozessparteien noch heftig gerungen wird: Lässt sich diese „zertifizierte Dienstleistung” auch ganz lebenspraktisch und nicht bloß begrifflich von „Prostitution” abgrenzen?
Es gibt tatsächlich Frauen (wie diese in einem Paywall-Artikel), die ihren körperlich oder geistig behinderten Kunden diese „zertifizierte Dienstleistung” aus freien Stücken angedeihen lassen und daher diese Abgrenzung in dem Sinne bejahen, dass sie eine „therapeutische Tätigkeit” ausüben und von keinem Zuhälter zu etwas gezwungen werden. Doch ohne jetzt irgendwelche Statistiken zitieren zu können, erlaube ich mir die Vermutung: Die Zahl jener Frauen, die bereitwillig ihre eigene Intimität und eigenen Geschlechtsorgane zum Instrument derart skizzierter „Therapiestunden” machen, ist wahrscheinlich sehr sehr überschaubar. [Und alle Fragen rund um die theoretisch mögliche umgekehrte Rollenverteilung der Geschlechter lasse ich gleich mal ganz weg…]
Und wenn es viel mehr „Nachfrage” nach als „Angebot” von „Sexualbegleitung durch zertifizierte Dienstleisterinnen“ gibt – wie soll dann dem gerichtlich zugestandenen „Recht auf selbstbestimmte Sexualität” des „Kunden” zur Realisierung verholfen werden? Es käme dann sehr darauf an, dass der Kostenträger auf dem Nachweise der erwähnten Zertifizierung zu bestehen hat – denn andernfalls könnte die selbstbestimmte Sexualität des Kunden auch mal auf die nicht selbstbestimmte Sexualität einer Anbieterin treffen, weil die sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in einem Abhängigkeitsverhältnis befindet und daher die Freiwilligkeit ihres Tuns nicht so einfach vorausgesetzt werden kann! Gutgläubig wie ich bin, nehme ich an, dass die Verletzung des Rechts ihrer sexuellen Selbstbestimmung ein relevantes juristisches Hindernis dafür ist, ebenjenes Recht für den Kunden zu verwirklichen.
Darüber hinaus erlaube ich mir einen ganz grundsätzlichen Zweifel an diesem Gerichtsurteil: Wenn die „Sex-Kostenübernahme” mit der „Verbesserung des gestörten seelischen Befindens” und der „Stärkung des Selbstbewusstseins” begründet wird – warum sollte sich dann nicht auch ein äußerlich unbeeinträchtigter Mensch, der „nur” psychologische Hilfe benötigt und in Anspruch nimmt, auf diese positiven Effekte berufen können, um sich seine Bordellbesuche von der Krankenkasse bezahlen zu lassen?
In der Auswahl seiner legalen privaten Vergnügungen soll jeder Mensch, ob behindert oder nicht, nach seiner Façon selig werden können, selbstverständlich. Ob das Ideal der Inklusion aber sogar eine Kostenübernahme solch delikaten Privatvergnügens durch die solidarische Gesellschaft rechtfertigt, scheint mir eine gut gemeinte Übertreibung zu sein.
Gut gemeint ist aber bekanntlich oft alles andere als gut gemacht.
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